– von Stephan Hoppe, Frieder Leipold und Jan Lutteroth –
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Im September 1595 beschwerte sich der Maurergeselle Peter Greis öffentlich über die schlechten Bedingungen auf der Baustelle von Schloss Weikersheim, einer aufwändigen Baumaßnahme in der Grafschaft Hohenlohe. Graf Wolfgang bezahle nicht nur schlechten Lohn, er stelle auch am Abend der Arbeitstage heimlich die Uhr zurück, sodass es erst zu spät 7 Uhr schlage. Diese Behauptungen ließ wiederum der Bauherr nicht auf sich sitzen und beschwerte sich seinerseits über das lose Mundwerk des Maurergesellen bei dessen Herren. Ob es sich bei den Klagen von Peter Greis um berechtigte Kritik oder üble Nachrede handelte, ist nicht das einzige ungeklärte Rätsel um den Schlossbau Graf Wolfgangs am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges.
Graf Wolfgang II. von Hohenlohe (1546–1610) war in mehrfacher Hinsicht ein bemerkenswerter Charakter. Als Lutheraner führte der Schwager von Wilhelm von Oranien in seinen Ländereien ein eigenes Kirchenrecht ein, das eher calvinistisch geprägt war und das dazu führte, dass ihm sein eigener Hofprediger das Abendmahl verweigerte. Bereits als junger Mann hatte er Europa bereist und ausgiebig Zeit an den Höfen in Frankreich, England und Österreich verbracht. Er war ein leidenschaftlicher Musikliebhaber, Pferdezüchter und Alchemist. Einem so vielseitig interessierten Mann wie ihm ist viel zuzutrauen. Das führte auch zur älteren kunsthistorischen These, er habe in Weikersheim ein geometrisches Ideal-Schloss errichtet.
In seiner 1952 verteidigten Dissertation „Das Schloss Weikersheim. Seine Baugeschichte und seine Stellung innerhalb der Schlossbaukunst des 16. und frühen 17. Jahrhunderts“ begründete der Architekt Walther-Gerd Fleck die Idee, dass Graf Wolfgang seinen Neubau ursprünglich nach der damals sehr spektakulären Grundrissfigur eines gleichseitigen Dreiecks geplant habe. Als Hauptindiz wertete er eine Passage in einem Briefentwurf an den Zimmerermeister Elias Gunzenhäuser vom 18. Juni 1595:
Wir geben euch hiermit günstig zu vernehmen, dass wir allhier an unserem Schloß einen großen Haubtbau zu dreyen Seitten, jede besonders ungever 250 Schuch lang zu füren vorhabens, darein einen Saal, 23 Schuch hoch, über 100 Schuch lang und 40 Schuch brait, alles ohne Seulen, und auf solchen Saal drey unterschiedliche Kornschütten komen sollen […] (We 50 D6f Elias Gunzenhäuser, zit. n. Fleck: Weikersheim, S. 64).
Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der entscheidende Abschnitt von den drei Seiten des Schlossbaus, die alle ungefähr 250 Schuh lang werden sollten, als eine Formulierung, die in dem Briefentwurf anschließend gestrichen wurde und in der abgeschickten Version wohl gar nicht mehr enthalten gewesen sein dürfte.
Diskussionen im Rahmen der interdisziplinären Tagung „Zeiträume – Schloss Weikersheim im Spiegel seiner Geschichte“ im Juni 2018 und Beobachtungen am Bestand vor Ort führten dazu, dass die Theorie Flecks nun kritisch hinterfragt wird (vgl. noch nicht erschienener Aufsatz im Tagungsband von G. Ulrich Großmann). Doch wenn es keinen dreieckigen Idealgrundriss und auch keinen entsprechenden Bauplan gegeben hat, wie sah das Schloss Graf Wolfgangs dann aus?
Dieser Frage wird zurzeit in einem von Stephan Hoppe am Institut für Kunstgeschichte der LMU München im Auftrag der Staatlichen Schlösser und Gärten Baden-Württemberg geleiteten Forschungs- und Digitalisierungsprojekt nachgegangen. Das Projekt ist Teil der interdisziplinären Kooperation „Virtuelle Rekonstruktion von Kulturliegenschaften“, die vom baden-württembergischen Finanzministerium im Rahmen der ersten digitalen Agenda für Baden-Württemberg (digital@bw 2018/19) finanziert wird und innovative Zugänge zum Kulturellen Erbe entwickeln soll.
Um einen genauen Einblick in die Baugeschichte von Weikersheim zu bekommen, ist es sinnvoll, eindeutig datierte Dokumente wie Briefe und Rechnungen auszuwerten. Aus ihnen ergibt sich folgendes Bild: Als Graf Wolfgang 1586 der neue Herr über Weikersheim wurde, stand dort bereits seit dem 12. Jahrhundert eine Burg, die vermutlich im 14. Jahrhundert weiter ausgebaut worden war. Dieser Bau scheint seiner Vorstellung einer angemessenen Residenz aber nicht entsprochen zu haben, weshalb er vermutlich bereits früh einen Neubau plante, für den er sich von Georg Stegle, dem Baumeister des Württemberger Herzogs, zwei Pläne und ein Modell anfertigen ließ. Die Bauarbeiten fanden dann von 1595 bis 1600 statt. Die Innenausbauten wurden vermutlich bis zum Jahr 1605 abgeschlossen.
Den neuesten Erkenntnissen zufolge ist Flecks Annahme eines geplanten Grundrisses in Form eines gleichseitigen Dreiecks heute in Zweifel zu ziehen. Seine Rekonstruktion des Bauablaufs steht nicht in allen Aspekten in Einklang mit den Quellen. Nach aktuellem Forschungsstand handelt es sich beim Weikersheimer Prinzessinnenbau und beim Beamtenbau um Trakte, die auf die mittelalterliche Burganlage zurückgehen. Fleck ging davon aus, dass der Neubau dann vom Bergfried am Prinzessinnenbau im Uhrzeigersinn verlief. Zuerst sei der Langenburger Bau errichtet worden, dann der Saalbau und schließlich der Küchenbau.
Eine kritische Auswertung der Quellen und des Bestandes deutet dagegen nun darauf hin, dass der von Graf Wolfgang ausgeführte Bau stattdessen genau in entgegengesetzter Richtung verlief und der Trakt an der Stelle des Langenburger Baus möglicherweise nur aus einem Treppenhaus als Fragment einer größeren Planung bestand. Ein Accord mit dem Würzburger Baumeister Paul Platz vom März 1683 legt nahe, dass der eigentliche Bau dort erst später errichtet wurde (vgl. entstehende Doktorarbeit von Dinah Rottschäfer). Diese Vermutungen decken sich mit den Annahmen, die bereits bis zu Flecks Publikation mit ihren revolutionären Ideen des Dreiecksschloss als gültige Lehrmeinung zur Baugeschichte gegolten hatten (vgl. Heuss, Hermann: „Hohenloher Barock und Zopf“, Öhringen 1937 und Freeden, Max von: „Schloss Weikersheim“, Berlin 1948/).
Nicht die Großfigur eines Dreiecks war der Ausgangspunkt von Graf Wolfgangs Überlegungen, sondern die Errichtung eines monumentalen Schlossflügels mit der symbolisch wichtigen protestantischen Schlosskapelle und einem Großen Saal in damals nur selten erreichten Dimensionen und mit einer aufwändigen und modernen Bildausstattung an Decke und Wänden. Die Rekonstruktion der funktionalen Raumstruktur zur Zeit Graf Wolfgangs stellt eine grundlegende wissenschaftliche Herausforderung dar. Aus ihr lassen sich Sinn und Zweck der Baumaßnahme ableiten.
Im Rahmen des laufenden Forschungs- und Digitalisierungsprojektes entsteht momentan durch Jan Lutteroth und Frieder Leipold an der LMU eine digitale 3D-Rekonstruktion des unter Graf Wolfgang tatsächlich geplanten und errichteten Schlosses. Dieses virtuelle Modell bietet die Möglichkeit, die Funktionsweise und den Anspruch einer Residenz um das Jahr 1600 beispielhaft nachzuvollziehen. Das digitale Modell wird dabei als kunsthistorisches Forschungswerkzeug eingesetzt, in dem alle wesentlichen Schritte und Quellen der Rekonstruktion nachhaltig dokumentiert und mit dem digitalen Datensatz wie eine Serie von Fußnoten verbunden werden (vgl. Lutteroth/Hoppe. Diese Forschungsdaten werden anschließend der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt und die Ergebnisse sollen in Animationen und digitalen Präsentationen Besucherinnen und Besuchern des Schlosses ein spannendes Stück Kunstgeschichte erläutern.
In der 3D-Rekonstruktion können Interessierte dann auf eine virtuelle Zeitreise gehen und dabei auch Räume betreten, die heute für die Öffentlichkeit nicht zugänglich oder schon lange umgebaut und verloren sind. Für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bietet die Aufarbeitung gemäß aktueller Maßstäbe der sich entwickelnden Digitalen Geisteswissenschaften die Möglichkeit, die zugrundeliegenden Überlegungen transparent nachzuvollziehen und die dabei gewonnenen Forschungsdaten in späteren Untersuchungen zu nutzen.
Es erweist sich als Glücksfall, dass im Verbund mit „Virtuelle Rekonstruktion von Kulturliegenschaften“ auch ein anderes, ebenfalls digital ausgerichtetes Forschungsvorhaben Schloss Weikersheim gerade in den Blick nimmt. Unter Anleitung von Ulrike Seeger erforscht das Projekt „Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland“ (CbDD) an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die ebenfalls unter Graf Wolfgang und auch später entstandenen, hoch bedeutenden Deckenmalereien. Es sind dabei grundlegende Impulse zur zeitgemäßen Erforschung der Kunst der späten Renaissance und des Barock in Deutschland zu erwarten.
Literatur
Fleck, Walther-Gerd: Das Schloss Weikersheim. Seine Baugeschichte und seine Stellung innerhalb der Schlossbaukunst des 16. und frühen 17. Jahrhunderts (Diss.), Tübingen 1954.
Hoppe, Stephan: Die funktionale und räumliche Struktur des frühen Schlossbaus in Mitteldeutschland. Untersucht an Beispielen landesherrlicher Bauten der Zeit zwischen 1470 und 1570, Köln 1996.
Lang, Frank Thomas: Schloss Weikersheim in Renaissance und Barock. Geschichte und Geschichten einer Residenz in Hohenlohe, Stuttgart 2006.
Fandrey, Carla: Schloss Weikersheim, Berlin und München 2010.
Käpplinger, Jakob: Die Jagd als Spiegel der Gesellschaft – Bemerkungen zum Raumprogramm des Rittersaals in Schloss Weikersheim, in: Württembergisch Franken, herausgegeben vom Historischen Verein für Württembergisch Franken, Band 95, Schwäbisch Hall 2011, S. 73–93.
Lutteroth, Jan-Eric; Hoppe, Stephan: Schloss Friedrichstein 2.0 – Von digitalen 3D-Modellen und dem Spinnen eines semantischen Graphen. In: Kuroczyński, Piotr, Bell, Peter und Dieckmann, Lisa (Hrsg.): Computing Art Reader: Einführung in die digitale Kunstgeschichte. Heidelberg 2018, S. 184–198.
Verwendete Archivalien
Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein
Noch nicht publiziert
Tagungsbericht von Prof. Dr. G. Ulrich Großmann
Dissertation von Dinah Rottschäfer M.A.
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